Es war das letzte Haus in der äußersten Siedlung im Vorort der Kleinstadt, unmittelbar angrenzend an die Felder und Weiden der Großbauern, deren Höfe jenseits des Waldstücks lagen, auf das wir aus dem Küchenfenster und dem Bad blickten. Die Straße war bis zur Garagenauffahrt asphaltiert und ging dann zunächst in eine Schotterstrecke und zwanzig, dreißig Meter weiter in einen Feldweg über, der in sanften Bögen zwischen den Äckern zum Busch führte und dort ohne besonderen Grund endete. Gästen, die mit dem Auto anreisten, sagte der Vater immer, sie sollten bedenken, dass man vor unserem Haus nicht wenden könne. Den Garten hatte er mit einem außergewöhnlich hohen Zaun umgeben lassen, und es kam mir immer so vor, als habe er das nicht getan, um unser Grundstück zu schützen, sondern um eine deutliche Grenze zwischen der Zivilisation und der aus seiner Sicht rauen Wildnis zu markieren, denn er war Zeit seines Lebens ein sehr urbaner Mensch. [Lesezeit ca. 9 min] „Noch im Winter“ weiterlesen
Seine Freundin
Stell dir einen Typ am Biertisch vor. Anfang Fünfzig, eine ordentliche Wampe über ziemlich dünnen Beinen, imposanter Schädel, dichter, schwarzer Vollbart und eine dicke Brille mit dunklem Gestell. Nennen wir ihn Matthias. Wie er da so am Stehtisch draußen vor der Hausbrauerei steht und sein Bier trinkt. Er war mein Freund, und ungefähr einmal im Monat trafen wir uns da, um miteinander zu reden. Selten oder nie ging es um persönliche, um private Dinge. Meistens erzählten wir uns Geschichten über Ereignisse, die wir miterlebt oder beobachtet hatten, oder über die politische Situation oder was uns sonst aufgefallen war. Eigentlich sind wir erst sehr spät Freunde geworden. Über Jahre waren wir Kollegen, im Beruf auch Kontrahenten, aber im Streit lagen wir nie miteinander. Matthias hatte seine berufliche Laufbahn unter meiner Leitung begonnen. Später war er bei einem großen Unternehmen angestellt, während ich freiberuflich wirkte. Einige Male, eine Zeit lag sogar regelmäßig, schob er mir Aufträge zu. [Lesezeit ca. 10 min] „Seine Freundin“ weiterlesen
Nicht mein Typ
Es war von Anfang an klar, dass wir Sex miteinander haben würden. Dabei war sie nicht mein Typ, und ich – wie ich später erfuhr – auch nicht ihrer. Im Gegenteil. Wir begegneten uns im Rahmen einer ziemlich großen Familienfeier, von der wir den größten Teil verpassten. Ich war der Einladung gefolgt, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, ob und wie ich mit den Gastgebern verwandtschaftlich verbunden war. So war ich auch gar nicht erst zu dem Teil der Feier gegangen, die am Morgen stattgefunden hatte, irgendeine Taufe, Trauung oder Beerdigung. Das Fest am Nachmittag, das man irgendwo auf einem idyllischen Gutshof organisiert hatte, den man für so etwas mieten konnte, hatte ich mir auch geschenkt; es wären mir vermutlich zu viele Kinder dort gewesen. Also fand ich mich erst zur Party ein, so gegen elf. [Lesezeit ca. 3 min] „Nicht mein Typ“ weiterlesen
Leben und Tod
In Wirklichkeit, sagte Thibaud unvermittelt, geht es doch um ganz was anderes. Und hielt inne. Wir warteten auf eine Fortsetzung des Satzes, eine Erläuterung, Erklärungen, Antwort, auf Argumente. Wir warteten darauf, dass er wie sonst zu einem Vortrag anheben würde, einem verschlungen Pfad aus Gedanken, Vorstellungen, aus ineinander verschachtelten Sätzen, die sich in Spiralen und Parabeln durch den Raum winden würden, bis am Ende niemand mehr weiß, wo der Ausgangspunkt lag. Aber Thibaud schwieg. Auf eine theatralisch-buddhistische Weise hatte er die Hände mit den Flächen nach oben vor sich auf den Tisch gelegt und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Wir alle ware unsicher, und eine Weile schwiegen auch wir. Bis Hanshubert aus dem Nichts heraus sagte, Ja,ja. Und Ellen mit einem Wißt ihr noch begann, über etwas zu reden, was mit Thibauds Statement nichts zu tun hatte. Aber in dem Augenblick, als Gernot oder einer der anderen aus der Runde auf das neue Thema einsteigen wollte, sprach Thibaud mit erhobener Stimme: Es geht um Leben und Tod. [Lesezeit ca. 3 min] „Leben und Tod“ weiterlesen
Hahnenkampf
Es war eine dieser Gruppen, bei denen zwei Kerle das Wort führen und immer darauf schielen, ob die Frauen am Tisch sie toll finden. Leider hatten sich die fünf Männer und vier Frauen an dem langen Stehtisch in der Schwemme angesiedelt, an dessen Kopfende ich meinen Stammplatz habe. Und weil sonst nichts Besseres frei war, hatte ich mich dort niedergelassen. Die Herren redeten ständig ein bisschen zu laut und lachten zu heftig, und der eine versuchte ständig besonders witzig zu sein. Drei der Damen hockten nebeneinander auf der Bank wie die Hühner auf der Stange und gackerten kollektiv, wenn einer der Jungs einen lustigen Satz in die Runde geworfen hatte. Dann gingen zwei Frauen zusammen aufs Klo, die Sitzordnung veränderte sich, und plötzlich saß sie neben mir – wir beide übereck am Tischende. „Hahnenkampf“ weiterlesen
Ein aufrechter Deserteur
Von seiner Vergangenheit erfuhren wir erst lange nach seinem Tod. Onkel Paul war nach dem Tod seiner Frau nach Holstein gezogen, in einen Ort, der zu groß war für ein Dorf und zu klein für eine Stadt. Dort galt er als der Kommunist. Mit dem evangelischen Pfarrer hatte er sich angefreundet und einige Nächte hindurch diskutiert, über Gott und die Welt. Der Pastor war es auch, der mir die Geschichte von Onkel Paul erzählte als ich nach Jahren zufällig in diesem Ort strandete. Mir fiel die bewegende Grabrede, die der Geistliche bei der Beerdigung gehalten hatte. [Lesezeit ca. 10 min] „Ein aufrechter Deserteur“ weiterlesen
Seelenleben
Das Skurrile an der folgenden Geschichte ist, dass kein lebendes Wesen sie jemals wird lesen können. Denn während ich diesen Text schreibe, bin ich schon tot. Und recht eigentlich schreibe ich die Wörter und Sätze auch nicht. Ich denke sie. Das ist auch das Einzige, was uns Toten übrig bleibt, nachdem wir den Körper losgeworden sind. Zu Lebzeiten habe ich nie an einen Gott, an irgendein höheres Wesen oder eine höhere Mächte geglaubt. Alles Religiöse, Spirituelle und Esoterische war mir zuwider. Jetzt nach meinem Tod weiß ich, dass ich damit richtig lag. Bis auf eine Ausnahme vielleicht: Ja, es gibt die Seele. Jeder Mensch, jedes Tier, beinahe jedes Lebewesen hat sie, und alle möglichen biologischen Formen von außerhalb unseres Sonnensystem auch. Und diese Seele ist unsterblich, also ewig. „Seelenleben“ weiterlesen
Elf-Achtundsechzig
Die Uhr im Wohnraum zeigte vier Uhr dreiundfünfzig. Ich war den fliegenden Punkten gefolgt, die mich geweckt hatten. Zuerst dachte ich, jemand auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer leuchte mit einer Taschenlampe durchs Fenster. Oder jemand habe einen Laserpointer auf das Haus gerichtet. Aber es waren mehrere, sanft bläulich strahlende Kugeln, die durch den Raum schwebten, vielleicht vier oder fünf. Ihre Bewegung folgten keinem Muster, und es sah auch nicht aus, als flögen sie in fester Formation. Manchmal nahm einer dieser Lichtbälle Geschwindigkeit auf und kreuzte die Bahnen der anderen. Das alles völlig geräuschlos. Wie gesagt: Ich stand auf und folgte den Kugeln ins Wohnzimmer. „Elf-Achtundsechzig“ weiterlesen
Fremdes Geld
Schein zählte die Banknoten umständlich auf den Küchentisch. Ingola griff sich eine und betrachtete das fremde Geld sorgfältig. Echt? fragte sie, aber Schein zuckte nur kurz mit den Schultern. Im Licht der Leuchte im Dunstabzug stand Kilian mit den Rücken zu ihnen und rauchte. Wo wir das ausgeben, ist egal, sagte er. Ein Auto fuhr vor, der Motor wurde abgestellt. Kilian trat auf den Küchenbalkon, kam zurück und sagte: Keiner von uns. Die Katze tigerte durch den Raum und sprang aufs Fensterbrett. Wann geht’s los? fragte Schein nachdem er fertig war. Übermorgen, antwortete Kilian. Noch jemand Wein? Ingola hatte die Flasche schon in der Hand. Beide Männer nickten. „Fremdes Geld“ weiterlesen
Randfigur
Jemand hat dieses Zeitungsbild abfotografiert. Man erkennt die Rasterpunkte. Außerdem ist das Foto verwackelt und in weiten Teilen unscharf. Mit Mühe lässt sich erkennen, dass es am J.-Platz aufgenommen wurde, lange vor dem Umbau. Damals gab es hier einen Straßenbahn- und Busknotenpunkt. Der Blick geht aus mittlerer Entfernung Richtung Fußgängerzone. Der Bereich davor öffnet sich auf den Betrachter hin zu einem Platz. An der linken Ecke, unmittelbar vor dem Eingang zu einem modernen Gebäude, steigt schwarzer Rauch auf. Zwei Personen laufen dicht hintereinander von links nach rechts durchs Bild. Sie sind allein schon durch die Bewegungsunschärfe nicht identifizierbar. Genau im Zentrum aber, ein wenig im Hintergrund, neben einem schwächlichen Baum, steht eine Person. Sie trägt vermutlich einen damals üblichen Parka. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen, durch ihren Schatten bleibt das Gesicht unsichtbar. Dieser Mensch hat beide Hände in den Taschen und scheint den Flüchtenden mit dem Blick zu folgen. Tatsächlich gab damals im Februar 1977 nur eine Tageszeitung in der Stadt, die von diesem versuchten Anschlag berichtete und dieses Foto veröffentlichte. „Randfigur“ weiterlesen
Mann mit Hunden
Nicht immer, wenn ein Mensch auf einem Foto zu sehen ist und dabei in die Kamera schaut, posiert er. Wir haben hier ein Hochformat. Der Mann steht auf dem Weg, der aus dem Park ins freie Feld führt. Man sieht ihn von vorne, und er schaut an der Linse vorbei. Das Kinn leicht angehoben, den Kopf ein wenig schief, mit neutralem Gesichtsausdruck. Die Hunde sitzen zu seinen Füßen und blicken in entgegengesetzte Richtungen. Es dürfte später Herbst oder früher Winter sein, denn der Mann trägt einen Dufflecoat, einen Schal und eine Mütze. „Mann mit Hunden“ weiterlesen
Lebensunterhalt
Es ist möglicherweise die einsamste Bushaltestelle des Landes. Gilda sitzt im schmalen Wartehäuschen und liest in einem ziemlich dicken Buch. Aus der einzigen Straßenlaterne in weitem Umkreis sickert weiches Licht durch die trübe Luft. Die Landstraße kommt aus einer Senke und führt rechterhand in einer flachen Linkskurve den Hügel hinauf. Unterhalb verschicken einzelne Häuser Licht aus ihren Fenstern. Jemand kommt und setzt sich neben sie. Sagt Hi, und sie grüßt mit einem schwachen Nicken zurück. Wann kommt er denn, der nächste Bus? fragt der Mann. Sie legt sorgfältig das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappt das Buch zu. Holt das Handy aus der Manteltasche, entsperrt es und zeigt auf das Display: Noch siebenundzwanzig. „Lebensunterhalt“ weiterlesen
Die Sieben und der Schmerz
Als ich heute früh erwachte, sagte Thibaud, hatte ich sieben Schmerzen; erfreulich wenige. Ja, ja, warf Storck ein, in unserem Alter ist man ja froh, wenn morgens was weh tut, denn dann weiß man, dass man noch am Leben ist. Immer noch kannst du keiner Banalität aus dem Weg gehen, entgegnete Thibaud und ergänzt: Lasst uns über physische Schmerzen sprechen, nicht über das Alter. Denn wenn eines das gesamte Leben begleitet, dann sind es Schmerzen. Aber in den letzten Jahren vor dem Tod, wandte Storck ein, ist jeder Schmerz ein Alarmsignal dafür, dass dieses oder jenes Körperteil funktional am Ende ist. Nimm die Leber. Ist die durch ständigen Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch angeschwollen, dann wird sie sich zersetzen und ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Und daran stirbt man. Gut, dass du dieses Organ erwähnst, stimmte Thibaud zu, es sendet nämlich einen meiner sieben Schmerzen aus. „Die Sieben und der Schmerz“ weiterlesen
Geschichte von einem frühen Tod
Wir sehen einen noch nicht ganz Zehnjährigen zwischen seinen Brüdern. Sie sitzen in kurzen Hemden und Hosen auf einer Bank an der Oder und lächeln schief in die Kamera: Paul, Gerhardt und Hans. Das Bild hat ein Fotograf aufgenommen, der den Abzug mit dem Namen seines Geschäfts abgestempelt hat. Es war an einem der wenigen wirklich sommerlichen Sonntage im Juli des Jahres 1933. Da sind die Jungen schon vaterlos, wissen aber nicht wie und weshalb der Vater verschwunden ist. In Stettin war im Mai den Gauleiter Karpenstein entmachtet worden. Gegen dessen Willen hatte die SS zuvor ein Internierungslager auf dem Gelände der Vulkanwerft eingerichtet und ab Ostern damit begonnen, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten zu verhaften und dorthin zu bringen – unter ihnen der Maurer Max Roggisch, Mitglied der KPD und Vertrauensmann der Baufirma Schlieske. Später würden Historiker dieses Lager als erstes KZ des Naziregimes bezeichnen. „Geschichte von einem frühen Tod“ weiterlesen
Manuela fährt Rad
Bist du jüdisch? fragt Hamza. Die Gruppe hat sich vor dem Ferienheim aufgebaut. Hinten stehen die Großen, davor die Kleineren, fünf Kinder liegen im Gras. Dazu die Fahrräder. Manuela ist die dritte von links in der mittleren Reihe. Und wenn? antwortet sie. Na, sagt Hamza, dann bist du ein schlechter Mensch, weil alle Jüdischen schlechte Menschen sind. Der Fotograf ruft: Jetzt alle mal Spaghettisoße sagen! Die Teilnehmer an der Radtour lächeln oder grinsen oder auch nicht, nur Manuela und Hamza gucken nicht in die Kamera. „Manuela fährt Rad“ weiterlesen