Reisebericht

Thibaud sah schlecht aus, müde und abgespannt – wie nach seiner letzten Reise auch. Er hatte den engsten Kreis zu unserem Lieblingsmexikaner eingeladen und läutete den Abend mit einem doppelten Mescal ein. “Ihr erwartet sicher meinen Bericht von der Reise”, begann er, “aber ich muss euch enttäuschen. In jedem Flugzeug, in jeder fremden Stadt, an Traumstränden und im Gebirge, an jedem Ort habe ich nur darüber meditieren können, was es ist, das mich reisen macht.” Er nahm noch einen Mescal, der Kellner kam und nahm die Bestellungen auf. Wir mussten lange auf die Fortsetzung seiner Erklärung warten. [Lesezeit ca. 2 min] „Reisebericht“ weiterlesen

Lüge & Verrat

Thibaud war mir immer als extremer Mensch erschienen. Jemand, der extreme Gedanken dachte, und auch vor extremen Taten nicht zurück schreckte. Wir alle bewunderten ihn, fürchteten ihn aber auch, denn er hatte oft genug bewiesen, dass sein schrankenloses Denken und Tun uns zu unbedachten Aktionen herausfordern konnten. Aber letztlich kehrten wir alle wieder in unsere ruhigen und gefahhrlosen Existenzen zurück. Trotz allem war Thibaud kein Guru, kein Missionar, kein Held und auch kein Führer. Edmund hatte einmal angemerkt, dass Thibaud ein Solitär wäre, ein Einzelstück ohne jede Bindung an Konventionen und an Menschen. Zilly hatte dieser Ansicht zu Recht widersprochen mit der Begründung, selbst ein so großer und einsamer Geist wie Thibaud brauche ein Publikum und Menschen, denen er vertrauen kann. [Lesezeit ca. 2 min] „Lüge & Verrat“ weiterlesen

Skinheads tot

Auch dieses Mal hatte Thibaud sich nicht bei uns abgemeldet, er verschwand einfach und tauchte nach fast sieben Monaten wieder auf: braungebrannt und mit kurzgeschorenen Haaren. Wir hatten keine Verbindung gesehen zwischen seiner Abwesenheit und dem Mord an den zwei jungen Männern in Rudolstadt. Deshalb kam sein Geständnis umso überraschender. Wir trafen uns mit ihm im Stadtpark am See. Er trug eine Sonnenbrille und wirkte nervös. Er sei noch am gleichen Abend mit dem Auto in die Schweiz gefahren und mit der letzten Maschine von Zürich nach Casablanca geflogen. Dort habe er einen Wagen gemietet um nach Goulimime zu kommen, wo sein Freund Tarek lebt. Am nächsten Tag habe er sich die Haare schneiden lassen und dann eine Dschellabah gekauft. Sein Glück sei es gewesen, dass niemand den Vorfall beobachtet habe, der seine Flucht ausgelöst hatte. [Lesezeit ca. 2 min] „Skinheads tot“ weiterlesen

Lügengeschichten

“Es ist so ein Sache mit der Realität,” begann Thibaud an jenem Abend das Gespräch als wir alle in seinem Sommerhaus in der Nähe von Zoutelande zu Besuch waren, den ganzen Tag am Strand verbracht und im Restaurant unter den Dünen auf der Holzterrasse ungezählte Flaschen Heineken getrunken hatten. Eigentlich waren wir alle betrunken von Bier und Sonne, müde vom blendenden Licht und so weit weg vom Ärger und Stress daheim, dass wir nur noch rumalberten und dumme Witze rissen. Und nun Thibaud mit ernster Stimme. “Erinnert sich noch jemand an die Geschichte über den Besitzer der Fischbratbude am Duinweg, die ich heute vormittag erzählte?” Ich hatte eine diffuse Ahnung, dass er uns mittags nach großen Portionen gebratener Scholle und holländischer Fritten, die Familiengeschichte der Betreiber präsentiert hatte. Dabei spielte der schwachsinnige Sohn eine Rolle, der Widerstand des Großvaters gegen die Nazis und ein jüdischer Küchenhelfer, den man in seinem Versteck vergessen hatte. Es war eine gute Geschichte. [Lesezeit ca. 2 min] „Lügengeschichten“ weiterlesen

Delikatessen

In jenen Tagen wurde es Thibaud langweilig. Er rief mich an und fragte, was ich ihm als Gegenmittel empfehlen könnte. Natürlich schlug ich verschiedene Vergnügungen und Zerstreuungen vor, aber er beharrte darauf, dass es etwas sein müsse, was er unter normalen Umständen niemals als Aktivität ins Auge fassen würde. Ich vergass die ganze Angelegenheit und hörte über mehrere Wochen nichts von Thibaud. [Lesezeit ca. < 1 min] „Delikatessen“ weiterlesen

Badewanne

Als wir alle am Tag nach Thibauds angeblichem Tod in der ehemaligen Mensa beisammen saßen, müde und traurig, und Tee tranken, wollte natürlich jeder von einem persönlichen Erlebnis mit ihm berichten. Auch Eric fing mit einem “Wisst ihr noch…” an, brach aber ab und lachte laut auf. Nur Sue erzählte gefasst und lückenlos von dem Tag als Thibaud morgens in die Badewanne gestiegen war und nach vierzehn Stunden immer noch darin saß und dann erstmals quer durchs Haus nach ihr rief. [Lesezeit ca. 2 min] „Badewanne“ weiterlesen

Mechanik

Eines Tages fuhr Thibaud auf einem Motorrad vor. Jill hatte gerade Männertreu am Rande des Steingartens gesetzt, während ich am Zaun arbeitete. Die Maschine war nicht sehr groß, aber laut. Thibaud trug schwarzes Leder und einen altmodischen Helm mit Stofflappen, die seine Ohren bedeckten. Er bockte das Motorrad am Bordsteinrand auf und kam in den Garten. Dort nahm er den Helm ab und grinste uns an. Jill wischte sich die Hände an der Schürze ab und kam zu uns. [Lesezeit ca. < 1 min] „Mechanik“ weiterlesen

Substanzen

Auch nach dem Essen wollte uns Thibaud nicht verraten, welche Zutaten er verwendet hatte. Wir saßen immer noch zu zehnt am Buchentisch und schmeckten dem Gericht nach, dass er für uns zubereitet hatte. Eileen spürte es zuerst. Ich blickte genau in diesem Moment eher zufällig in ihre Augen und sah die Pupillen auf Stecknadelkopfgröße zusammenschrumpfen. Sie kicherte zweimal kurz und hysterisch. Am anderen Ende des Tisches stimmte Helmut ein altes, niederösterreichisches Volkslied an, und Yoo-Yin zog sich das gelbe T-Shirt über den Kopf. Mir ging es gut, auch wenn mich die handtellergroßen Kampfflugzeuge irritierten, die zwischen den Tellern und Schüsseln landeten und wieder starteten. [Lesezeit ca. < 1 min] „Substanzen“ weiterlesen

Kurzschluss

In den späteren Jahren fand man Thibaud nur noch auf der Veranda, die er zu einem Hightech-Wintergarten hatte umbauen lassen. Filmbilder flimmerten dort frei im Raum, Musik empfing er drahtlos und ohne Umweg über Lautsprecher oder Kopfhörer mit dem Wifi-Chip hinter der rechten Schläfe. Ein Nachbar hatte uns angerufen und sich sehr besorgt gezeigt, weil Thibaud sich seiner Beobachtung nach seit Tagen nicht mehr aus dem Sessel hinter den hohen Scheiben bewegt hatte. [Lesezeit ca. < 1 min] „Kurzschluss“ weiterlesen

Trepanation

Nach nächtelangen Diskussionen hatten wir schließlich eingewilligt. Thibaud hatte uns zwar nicht überzeugen können, aber sein Wunsch nach der Trepanation war so groß, dass wir es mehr und mehr als Freundespflicht empfanden, den Eingriff an seinem Schädel auszuführen. [Lesezeit ca. 2 min] „Trepanation“ weiterlesen

Blind

“Es ist auch ein Vorteil blind zu sein”, sagte Thibaud, der mit vierzig sein Augenlicht bei einem Unfall verloren hatte, “man muss nichts mehr sehen.” Er legte mir die Hand auf den Unterarm: “Wenn es still ist, dann sehe ich Bilder aus meinem Lebens – Szenen meiner Kindheit, meiner Jugend und der Kampfzeit. Wie ein alter Mann, der sich ein Photoalbum anschaut.” Thibaud drehte sein Gesicht dem Fenster zu, das mir einen Blick auf den hellgrauen Herbsthimmel bot, und fuhr fort: “Die alten Aufnahmen werden immer schärfer je länger ich blind bin, die Tonspur verstummt, und ich muss nicht mehr denken, was ich dachte als die Ereignisse stattfanden.” [Lesezeit ca. < 1 min] „Blind“ weiterlesen

Mit nem Ei im Mund

Mit nem Ei im Mund
„Mit nem Ei im Mund um den Block rennen! Wetten, ich kann das?“
„Klar kannste das.“
„Wetten? Wetten?“ Siggi hüpft vor Horsti auf und ab.
„Warum soll das nicht klappen?“ sagt Horsti mit schiefem Gesicht.
„Mensch! Mit nem Ei im Mund! Was wettest du?“ [Lesezeit ca. 44 min] „Mit nem Ei im Mund“ weiterlesen

Die Zeiten sind

Vorspann

Am Anfang war der Faden. Und der Faden war rot und er zog sich ganz hindurch durchs Leben. Wir sollten beim Erzählen den Faden nicht verlieren, sagt Susanne, sondern die Geschichten behandeln wie Perlen und auffädeln.

Kämm dir doch die Fransen aussem Gesicht, ja, das sieht definitiv scheiße aus. Keine Diskussion. Woher ich das Recht nehme? Aus meinem ästhe-tisch-moralischen Grundwertevorrat, du Flachwichser. Nein, ich bin nicht besoffen, ich hab, genau wie du, fünf Jackie-Cola intus. Das macht mir gar nix, wie du wissen solltest. Und was soll eigentlich diese präpotente Jacke, hä? Mit diesem lächerlichen Heavy-Metal-Zeichen auffem Rücken und den versilberten Knöpfen… Wie alt bist du denn? Willst du nicht irgend wann mal die Kurve kriegen? Okay, okay, du bist aus vollem Herzen Taxifahrer. Ja klar, und meine Tante ist auch n schöner Mann. Warst ja auch aus Über-zeugung Kurierfahrer. Und Kellner. Und und und. Du glaubst das und sonst keiner. Ich sag dir was: du lügst dir schon seit zig Jahren in sämtliche Taschen, du Loser. Und jetzt hör auf mit dem Debattieren, es gibt Geschichten zu erzählen, Gedanken zu denken, Stimmen zu hören. [Lesezeit ca. 14 min] „Die Zeiten sind“ weiterlesen

Bier und Ei

(Getting-Old-Senior-Club-Mix 1999)

Samira wischt die Theke, umkreist Kopf und Arme vom alten Körnewig, der nicht wirklich schläft, sondern sie nur provozieren will. Wartet darauf, dass sie sagt: Hey, sie können hier nicht pennen. Dann würde er langsam den Kopf heben, sie ansehen, sich an ihren krähenschwarzen Glanzaugen freuen und sagen: Tu ich doch nicht, ruh mich bloß aus und denk ein bisschen nach. Deshalb sagt sie nichts. [Lesezeit ca. 5 min] „Bier und Ei“ weiterlesen