Zorn & Trauer

Oft kam es mir so vor, als täte Thibaud alles, nur um uns zu beeindrucken. Jede seiner überraschenden Wendungen erschien uns zu spontan, zu unlogisch und zu radikal, als dass sie keiner Strategie folgen würde. Neulich trafen wir ihn zufällig im Café Zentral, wo er an einem Einzeltisch saß und etwas mit dem Bleistift in ein schwarz gebundenes Notizbich schrieb. Er trug ein Tweed-Sakko, das wir noch nie an ihm gesehen hatten, eines mit Lederflicken auf den Ellenbogen, dazu ein zerknittertes, dunkelblau gestreiftes Hemd. Im Aschenbecher qualmte ein Zigarette, vor ihm stand ein Glas Rotwein. Zilla sprach ihn an. Thibaud blickte kaum auf und bedeutete uns, sich zu ohm zu setzen. Dann blickte er auf und sagte: “Ihr seht, ich schreibe wieder. Um mir das zu ermöglichen, habe ich meinen Computer fortgeworfen.” Hanshubert starrte ihn ungläubig an: “Den neuen iMac?” Thibaud lächelte ihn an und bestätigte: “Ja, den brandneuen iMac.” Auch ich war erstaunt, hatte sich Thibaud doch bisher als jemand erwiesen, der jede technische Neuerung begeistert angenommen und zu nutzen versucht hatte. Ja, er hatte uns alle von tragbaren Mp3-Playern überzeugt, von LCD-Fernsehern, Digital-Kameras und Multifunktions-Handys. Wir hatten angeschafft, was er empfahl. „Zorn & Trauer“ weiterlesen

Fleischwolf

“Wenn wir das, was wir mit unseren Hirnen anstellen, nämlich auf der Ebene permanenter Selbstreferenz das bereits Gedachte immer wieder denken, mit unseren Körpern täten, würden wir uns innerhalb kürzester Zeit selbst verdauen”, sagte Thibaud als Einleitung. Wir waren alle eingeladen in seine neue Küche. Er stand an der Herdinsel, hatte einen schwarze Kochjacke an und die langen grauen Haare unter einem schwarzen Kopftuch verborgen. Seit ein paar Monaten war er der Kocherei verfallen und hatte sich von uns zum Geburtstag alle möglichen Utensilien für die Küche gewünscht. Und an diesem Abend wollte er uns vorführen, was er damit zu erzeugen in der Lage war. Auf der Arbeitsplatte hinter ihm stand der schwere stählerne Fleischwolf. „Fleischwolf“ weiterlesen

Gerechtigkeit

Thibaud hatte sich in Rage geredet. Er fuchelte mit den Händen in der Luft herum, und was er sagte, klang atemlos: “Gerechtigkeit, ihr fordert Gerechtigkeit! Dabei wisst ihr doch gar nicht, was das ist. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm finden sich dreizehn Bedeutungen des Wortes. Wenn ihr Gerechtigkeit fordert, dann wollt ihr in Wirklichkeit nur ausdrücken, dass ihr einen bestimmten Zustand ungerecht findet. Ungerecht fühlt ihr euch behandelt, weil ihr nicht das bekommt, von dem ihr annehmt, dass es euch zusteht. Nach Recht solltet ihr verlangen! Nach dem Einhalten der Gesetze! Denn ihr bekommt das, was ihr euch wünscht, was ihr wollt oder braucht, oft nicht, weil Andere die Gesetzte nicht einhalten. Wenn ihr für Gerechtigkeit wäret, dann müsstet ihr aufstehen und Gerechtigkeit für alle fordern. Aber ihr seid dermaßen in eurem Anspruchsdenken verhaftet, dass ihr über euren kleinen, uninteressanten egoistischen Tellerrand nicht hinaus zu blicken vermögt. Das Recht bringt Klarheit über das, was die Teilnehmer eines sozialen Systems im Rahmen der Verwirklichung ihrer eigenen Interessen tun dürfen. Das Recht beschränkt das Handeln. Denn täte es das nicht, dann würde das Mädchen die alte Frau erschlagen, weil ihr deren Armreif gefällt und sie ihn besitzen möchte. Gäbe es kein Recht, gäbe es auch keinen Handel, den jeder würde jeden betrügen. Wenn jemand euch erklärt, dass ihr auf dieses oder jenes keinen Anspruch habt, dann regt ihr euch grundsätzlich auf. Ihr seht nicht, dass die Durchsetzung euren Anspruchs die Rechte anderer Menschen verletzten würde. Ihr seid zu beschränkt, überhaupt wahrzunehmen, wie oft ihr andere Menschen schädigt, weil ihr eure Interessen über die anderen stellt. Das beginnt doch schon damit, dass ihr eure überdimensionierten Autos einfach auf der Fahrbahn abstellt und damit Hunderte anderer Autofahrer behindert, nur weil ihr mal eben was besorgen wollt. Und das endet noch lange nicht, wenn ihr fordert, man möge euch eine Rente zahlen, während eure Nachbarn hungern.” „Gerechtigkeit“ weiterlesen

Tyrannenmord

Thibaud kam spät und machte einen gehetzten Eindruck. Er schob sich auf den Platz neben mir und blieb unruhig. Auch schien er mir ein wenig derangiert, zumindest ungewöhnlich gekleidet. Unter dem üblichen Tweed-Sakko mit den Lederflicken auf den Ellenbogen trug er ein knallrotes T-Shirt mit schwarzem Aufdruck. Ich bemühte mich zu lesen, was darauf stand, aber mein Blickwinkel war ungünstig. Außerdem nestelte Thibaud ständig am Jackett. Zilly hatte ihre Präsentation schon begonnen, und das Auditorium folgte ihren Ausführungen mit großer Konzentration. Dann hatte sie den letzten Satz gesagt und ihr Manuskript zusammengerafft. Das Publikum honorierte den Vortrag durch lautes Klopfen auf den Pulten, die an den Rückenlehnen der Stühle angebracht waren. Während Zilly gerade das Podium verließ, drängelte sich Thibaud an mir vorbei und eilte zur Bühne. Er nahm den Platz hinter dem Rednerpult ein, bog das Mikrofon zurecht und sagte: “Auch wenn dies ein Kongress zum Thema ‘Gewaltloser Widerstand in den Zeiten der schwachen Repression ist’, habe ich nur einen Kommentar abzugeben.” Er trat einen Schritt beiseite und zog das Sakko aus. Auf dem roten T-Shirt stand in schwarzen Lettern der Satz: ‘Tyrannen stürzen nur durch Terror’. [Lesezeit ca. 2 min] „Tyrannenmord“ weiterlesen

Tätowierungen

In vielen Fällen war niemandem von uns klar, worauf Thibaud mit seinen Aktionen hinaus wollte. An seinen ständig wechselnden Kleidungsstil, an seine verschiedenen Frisuren hatten wir uns über die Jahre gewöhnt, auch die Tatsache, dass sein Gewicht und damit sein Umfang sich ständig innerhalb recht weit gefasster Grenzen änderte, ließ uns nach ein paar Jahren kalt. Mir hatte er einmal ganz beiläufig erzählt, dass der eigene Körper sein liebstes Spielzeugt sei. “Weißt du”, sagte er, “es gibt doch keine größere Freiheit als die des Körpers. Ich kann damit tun und lassen, was ich will. In den meisten Fällen bewege ich mich dabei ja sogar im Rahmen der Gesetze. Deswegen verstehe ich auch nicht, welches Recht sich der Staat herausnimmt, mich am Konsum von Drogen zu hindern.” Dabei nahm er einen ordentlichen Mundvoll Kräuterrauch aus der Wasserpfeife, die zwischen uns auf den Holzdielen der Terrasse stand. “Natürlich”, fuhr Thibaud fort, “ist reines Epigonentum bei körperverändernden Maßnahmen albern – man betrachte nur diese Tätowierungen junger Frauen oberhalb ihres verlängerten Rückens…” – ” Du meinst ein Arschgeweih”, warf ich ein. Thibaud schüttelte sich vor Lachen, denn den Ausdruck hatte er zuvor nicht gehört. [Lesezeit ca. 2 min] „Tätowierungen“ weiterlesen

Aphorismen

Eine Zeitlang traktierte Thibaud uns mit selbsterdachten Sinnsprüchen. Zu den erträglichsten zählte noch dieser Aphorismus: “Das Leben ist wie eine Straße voller Schlaglöcher: kaum hat man eines ausgebessert und hofft, nun störungsfrei fahren zu können, tut sich das nächste auf.” Wir ließen ihn gewähren, auch wenn wir uns über seine neue Leidenschaft insgeheim lustig machten. [Lesezeit ca. < 1 min] „Aphorismen“ weiterlesen

Nackt in Dünen

Vor einigen Jahren verbrachten wir alle zwei Wochen in einem Sommerhaus an der dänischen Nordseeküste. Thibaud war wenige Wochen zuvor von Edith verlassen worden und hatte, um die Nächte nicht allein im Bett verbringen zu müssen, eine Studentin eingeladen, die seit Anfang des Semsters seine Seminare besuchte und ihn offensichtlich verehrte. Gulla, so ihr Name, war zu der Zeit vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt, ein zierliches Mädchen mit tiefschwarzen Haaren und von unbestimmt asiatischer Herkunft. [Lesezeit ca. 3 min] „Nackt in Dünen“ weiterlesen

Reisebericht

Thibaud sah schlecht aus, müde und abgespannt – wie nach seiner letzten Reise auch. Er hatte den engsten Kreis zu unserem Lieblingsmexikaner eingeladen und läutete den Abend mit einem doppelten Mescal ein. “Ihr erwartet sicher meinen Bericht von der Reise”, begann er, “aber ich muss euch enttäuschen. In jedem Flugzeug, in jeder fremden Stadt, an Traumstränden und im Gebirge, an jedem Ort habe ich nur darüber meditieren können, was es ist, das mich reisen macht.” Er nahm noch einen Mescal, der Kellner kam und nahm die Bestellungen auf. Wir mussten lange auf die Fortsetzung seiner Erklärung warten. [Lesezeit ca. 2 min] „Reisebericht“ weiterlesen

Lüge & Verrat

Thibaud war mir immer als extremer Mensch erschienen. Jemand, der extreme Gedanken dachte, und auch vor extremen Taten nicht zurück schreckte. Wir alle bewunderten ihn, fürchteten ihn aber auch, denn er hatte oft genug bewiesen, dass sein schrankenloses Denken und Tun uns zu unbedachten Aktionen herausfordern konnten. Aber letztlich kehrten wir alle wieder in unsere ruhigen und gefahhrlosen Existenzen zurück. Trotz allem war Thibaud kein Guru, kein Missionar, kein Held und auch kein Führer. Edmund hatte einmal angemerkt, dass Thibaud ein Solitär wäre, ein Einzelstück ohne jede Bindung an Konventionen und an Menschen. Zilly hatte dieser Ansicht zu Recht widersprochen mit der Begründung, selbst ein so großer und einsamer Geist wie Thibaud brauche ein Publikum und Menschen, denen er vertrauen kann. [Lesezeit ca. 2 min] „Lüge & Verrat“ weiterlesen

Skinheads tot

Auch dieses Mal hatte Thibaud sich nicht bei uns abgemeldet, er verschwand einfach und tauchte nach fast sieben Monaten wieder auf: braungebrannt und mit kurzgeschorenen Haaren. Wir hatten keine Verbindung gesehen zwischen seiner Abwesenheit und dem Mord an den zwei jungen Männern in Rudolstadt. Deshalb kam sein Geständnis umso überraschender. Wir trafen uns mit ihm im Stadtpark am See. Er trug eine Sonnenbrille und wirkte nervös. Er sei noch am gleichen Abend mit dem Auto in die Schweiz gefahren und mit der letzten Maschine von Zürich nach Casablanca geflogen. Dort habe er einen Wagen gemietet um nach Goulimime zu kommen, wo sein Freund Tarek lebt. Am nächsten Tag habe er sich die Haare schneiden lassen und dann eine Dschellabah gekauft. Sein Glück sei es gewesen, dass niemand den Vorfall beobachtet habe, der seine Flucht ausgelöst hatte. [Lesezeit ca. 2 min] „Skinheads tot“ weiterlesen

Lügengeschichten

“Es ist so ein Sache mit der Realität,” begann Thibaud an jenem Abend das Gespräch als wir alle in seinem Sommerhaus in der Nähe von Zoutelande zu Besuch waren, den ganzen Tag am Strand verbracht und im Restaurant unter den Dünen auf der Holzterrasse ungezählte Flaschen Heineken getrunken hatten. Eigentlich waren wir alle betrunken von Bier und Sonne, müde vom blendenden Licht und so weit weg vom Ärger und Stress daheim, dass wir nur noch rumalberten und dumme Witze rissen. Und nun Thibaud mit ernster Stimme. “Erinnert sich noch jemand an die Geschichte über den Besitzer der Fischbratbude am Duinweg, die ich heute vormittag erzählte?” Ich hatte eine diffuse Ahnung, dass er uns mittags nach großen Portionen gebratener Scholle und holländischer Fritten, die Familiengeschichte der Betreiber präsentiert hatte. Dabei spielte der schwachsinnige Sohn eine Rolle, der Widerstand des Großvaters gegen die Nazis und ein jüdischer Küchenhelfer, den man in seinem Versteck vergessen hatte. Es war eine gute Geschichte. [Lesezeit ca. 2 min] „Lügengeschichten“ weiterlesen

Delikatessen

In jenen Tagen wurde es Thibaud langweilig. Er rief mich an und fragte, was ich ihm als Gegenmittel empfehlen könnte. Natürlich schlug ich verschiedene Vergnügungen und Zerstreuungen vor, aber er beharrte darauf, dass es etwas sein müsse, was er unter normalen Umständen niemals als Aktivität ins Auge fassen würde. Ich vergass die ganze Angelegenheit und hörte über mehrere Wochen nichts von Thibaud. [Lesezeit ca. < 1 min] „Delikatessen“ weiterlesen

Badewanne

Als wir alle am Tag nach Thibauds angeblichem Tod in der ehemaligen Mensa beisammen saßen, müde und traurig, und Tee tranken, wollte natürlich jeder von einem persönlichen Erlebnis mit ihm berichten. Auch Eric fing mit einem “Wisst ihr noch…” an, brach aber ab und lachte laut auf. Nur Sue erzählte gefasst und lückenlos von dem Tag als Thibaud morgens in die Badewanne gestiegen war und nach vierzehn Stunden immer noch darin saß und dann erstmals quer durchs Haus nach ihr rief. [Lesezeit ca. 2 min] „Badewanne“ weiterlesen

Mechanik

Eines Tages fuhr Thibaud auf einem Motorrad vor. Jill hatte gerade Männertreu am Rande des Steingartens gesetzt, während ich am Zaun arbeitete. Die Maschine war nicht sehr groß, aber laut. Thibaud trug schwarzes Leder und einen altmodischen Helm mit Stofflappen, die seine Ohren bedeckten. Er bockte das Motorrad am Bordsteinrand auf und kam in den Garten. Dort nahm er den Helm ab und grinste uns an. Jill wischte sich die Hände an der Schürze ab und kam zu uns. [Lesezeit ca. < 1 min] „Mechanik“ weiterlesen

Substanzen

Auch nach dem Essen wollte uns Thibaud nicht verraten, welche Zutaten er verwendet hatte. Wir saßen immer noch zu zehnt am Buchentisch und schmeckten dem Gericht nach, dass er für uns zubereitet hatte. Eileen spürte es zuerst. Ich blickte genau in diesem Moment eher zufällig in ihre Augen und sah die Pupillen auf Stecknadelkopfgröße zusammenschrumpfen. Sie kicherte zweimal kurz und hysterisch. Am anderen Ende des Tisches stimmte Helmut ein altes, niederösterreichisches Volkslied an, und Yoo-Yin zog sich das gelbe T-Shirt über den Kopf. Mir ging es gut, auch wenn mich die handtellergroßen Kampfflugzeuge irritierten, die zwischen den Tellern und Schüsseln landeten und wieder starteten. [Lesezeit ca. < 1 min] „Substanzen“ weiterlesen